Der Long Covid-Spezialist und Neurowissenschafter David Putrino: Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die post-akute Infektionssyndrome wie Long Covid/Post Covid oder die Multisystemerkrankung ME/CFS untersuchen, müssten "ständig für die Tatsache eintreten, dass das, womit wir es zu tun haben, eine organische Krankheit ist". Dies sei bedauerlich, sagte Putrino zu der auch in Teilen der Wissenschaft bzw. Ärzteschaft in Österreich nach wie vor bestehenden Diskussion, inwieweit derartige Syndrome überhaupt somatische (körperliche) Ursachen haben.
"Viele Leute haben das gesagt - und ich stimme voll und ganz zu -, dass dies einer der größten Skandale des letzten Jahrhunderts in der Medizin ist: Die Art und Weise, wie Menschen mit ME/CFS, Long-Covid, chronischer Lyme-Borreliose und anderen post-akuten Infektionssyndromen behandelt wurden. Wir sind fest entschlossen, das zu ändern und die Wissenschaft zu betreiben, die uns zu umsetzbaren Behandlungen und vielleicht sogar eines Tages zu Heilungen bringt", sagte Putrino.
Putrino ist auch im wissenschaftlichen Beirat der von der Wiener Bäckerei-Familie Ströck gegründeten WE&ME-Stiftung vertreten, die sich der Erforschung von ME/CFS verschrieben hat.
"Die letzten 60 bis 70 Jahre, in denen versucht wurde, diese Krankheit mit psychologischem Management und Bewegung zu behandeln, sind kläglich gescheitert", betonte Putrino. Es gebe "keine einzige" peer-reviewte Studie, die zeigt, dass kognitive Verhaltenstherapie (KVT bzw. CBT) oder sogenannte abgestufte Bewegungstherapie (Graded exercise therapy/GET) "irgendeine Rolle" bei der Heilung von Menschen mit ME/CFS oder Long-Covid spielen, "die nicht von seriösen Wissenschaftern völlig diskreditiert wurde".
Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie seien nichtsdestotrotz Werkzeuge, nach denen gegriffen wird, "weil sie billig sind" und somit "attraktiv für Regierungen". Damit helfe man aber nicht: "Es ist eine so negative Situation, die schon seit Jahrzehnten andauert."
Putrino erwies darauf, dass man mittlerweile u.a. signifikante und klare Veränderungen der neuroendokrinen Funktion gemessen habe, "also Veränderungen des Testosteronspiegels, des Östrogenspiegels und des Cortisolspiegels". "Das sind übrigens Veränderungen, die eigentlich das Gegenteil von denen sind, die im Laufe der Jahre mit Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht wurden", betonte er.
Man sehe auch Veränderungen in der Immunfunktion, "die darauf hindeuten, dass der Körper über einen längeren Zeitraum gegen etwas kämpft". "Wir sehen also Dinge wie T-Zell-Erschöpfung und dass (...) andere Viren, die zuvor latent waren, wie z.B. Herpesviren, im Körper reaktiviert werden."
Auch kognitive Veränderungen, Veränderungen des autonomen Nervensystems, "die messbar und objektivierbar sind", wie posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS), seien feststellbar. Dies sei "keine psychosomatische Veränderung". Es sei bedauerlich, dass das immer noch eine Frage ist, sagte er.
Auch plädiert der Experte dafür, die Patienten sowohl bei ihrer Behandlung als auch bei der Forschung stark einzubinden: "Ein wirklich gutes Beispiel dafür ist eines der Hauptsymptome sowohl von ME/CFS als auch von Long-Covid: Post-Exertional Malaise", sprach Putrino die schwere Belastungs-Erholungsstörung PEM an, die laut Experten wie Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien als Kardinalsyndrom von ME/CFS gilt.
Seit Jahrzehnten würden "sogenannte ME/CFS- und Long-Covid-Forscher" PEM "wegerklären oder missverstehen", so Putrino. "Manchmal unterscheiden sie es nicht einmal von Müdigkeit, was ein großer Fehler und ein grundlegendes Missverständnis ist." Auch werde PEM allen möglichen psychologischen Problemen zugeordnet.
Man müsse tiefer blicken als bei Standard-Labordiagnosen, die der Hausarzt durchführt. "Und ich möchte es klarstellen: Jedes Mal, wenn ein Forscher das getan hat, hat er etwas gefunden", verwies er etwa auf Arbeiten von Rob Wüst von der Universität Amsterdam, die zeigen, dass bei Personen mit PEM "abnormale, schädigende Proteine in den Muskeln" produziert werden.
Daher sei die Teilnahme an Patienten-organisierter Forschung oder Symposien wichtig, verwies er etwa auf eine von Betroffenen organisierte Online-Konferenz im Mai (Titel: "UniteToFight"), bei der er auch selbst als Redner teilnehmen wird und die für jeden frei zugänglich ist.
Bei dieser laut den Initiatoren bisher größten internationalen Tagung (15./16. Mai, https://unitetofight2024.world) sind zahlreiche renommierte Experten versammelt.
Neben Putrino sind u.a. die Immunologin Akiko Iwasaki von der Yale University (USA), der deutschen Stigmatisierungsforscher und Psychiater Georg Schomerus von der Universität Leipzig oder die ME/CFS-Spezialistin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Chariete als Redner angekündigt.
Quelle: puls24.at