Long Covid und ME/CFS werden häufig als bloße Erschöpfung verharmlost. Dabei erleben Schwerbetroffene ihre Situation als existenzielle Not. Es kommt zu Suiziden.
Dies wird mein letzter Tweet sein“, schrieb die 28-jährige Lauren am 27. Januar auf X. „Danke für die Liebe, ihr alle.“ Und wieder einmal waren die sozialen Medien voller blauer Rosen.
Ist ein ME/CFS-Erkrankter verstorben, so schmücken Betroffene und Angehörige zum Gedenken ihre Profile mit den auffälligen Blüten. Dass sie nicht nur vereinzelt Suizide betrauern, steht zwischen den Zeilen ihrer Beiträge.
In ihrem Blog hatte die Niederländerin Lauren ihr Leben mit der chronischen Multisystemerkrankung geschildert. ME/CFS tritt unter anderem nach Virusinfektionen auf, gilt auch als schwerste Form von Long Covid.
Für Außenstehende ist kaum nachvollziehbar, dass postvirale Erkrankungen eine derart existenzielle Dimension erreichen können – nicht zuletzt, weil viele Betroffene auf den ersten Blick kerngesund aussehen.
Bei einer Pressekonferenz nach seinem Runden Tisch Long Covid Mitte April deutete Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) das Thema erstmals vorsichtig an, als er fast beiläufig sagte: „Wir haben auch junge Leute, die Long-Covid-betroffen sind und die sich im Rahmen der Sterbehilfe informieren.“
Hinweise liefern zudem einige Studien. „Es gibt eindeutige Belege, dass Suizide bei ME/CFS häufiger vorkommen“, sagt der amerikanische Psychologe Leonard A. Jason der Berliner Zeitung. Der Professor der DePaul University in Chicago hat wohl so intensiv wie kein Zweiter zu dieser Frage geforscht.
144 waren es in einer Untersuchung von 2006 – jeder fünfte davon (29 Fälle) ein Suizid, was gleichauf mit Herzversagen die häufigste Todesursache darstellte. In dieser und einer neueren Studie von 2016 fand Jason zudem heraus, dass sich ME/CFS-Betroffene im Schnitt mit rund 40 Jahren und damit sehr jung zum Suizid entschieden.
Der amerikanische Forscher Jason ging der Frage nach den Ursachen für den Sterbewunsch systematisch nach. Schmerzen sind demnach nicht ausschlaggebend – wohl aber die Stigmatisierung im sozialen Umfeld. In einer aktuellen Untersuchung analysierte der Psychologe 559 ME/CFS-Patienten, Suizidgedanken hatten 222 von ihnen. In der Gruppe derer, die häufiger Stigmatisierung erfahren haben, kamen sie viermal so oft vor wie bei den anderen Patienten.
In einer Studie von 2022 sah Jason zudem ein deutlich höheres Suizidrisiko bei Betroffenen, deren Ärzte die Erkrankung lediglich als CFS bezeichneten. Hinter der Abkürzung verbirgt sich das Chronische Fatigue-Syndrom, das zwar ein häufiges Symptom ist, aber nur eines unter vielen.
„CFS trivialisiert die Krankheit“, gab auch Lauren den Lesern ihres letzten Blogposts mit auf den Weg: „Ich ziehe es vor, sie ME zu nennen.“
„Die Verzweiflung ist mit Händen greifbar, vor allem bei den Schwerbetroffenen“, berichtet Astrid Weber, die als Leiterin der Long-Covid-Ambulanz Koblenz bereits rund 800 Long-Covid-Patienten betreut hat.
Dies bestätigt der Neurologe Michael Stingl. Mit seiner Praxis in Wien hat er sich vor gut sechs Jahren auf ME/CFS spezialisiert, Schwerbetroffene betreut er auch telemedizinisch. Bis heute hatte er rund 2000 Patienten mit ME/CFS und Long Covid, so viele wie wohl kein anderer Arzt in Österreich. Er erinnert sich an fünf Suizidfälle.
Quelle: Berliner Zeitung