Von Martin Rücker (RiffReporter)
ℹ️ Die restriktive Bewilligungspraxis bei Erwerbsminderungsrenten bringt chronisch Kranke in Not – wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz. Der Fall einer ME/CFS-Betroffenen aus Niedersachsen zeigt, wo die Probleme liegen.
➡️ An jenem Tag, als Emilia Kühne von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erfuhr, dass sie jetzt wieder Vollzeit arbeiten gehen könne, lag sie in einem abgedunkelten Raum in ihrem Bett. Für die damals 39-Jährige war es ein weiterer Tag, an dem ihre Kraft nur für fünf Minuten reichte, gerade genug, um sich in einem Rollstuhl aufzurichten und etwas zu essen. Die restliche Zeit verbrachte sie liegend, so gut wie möglich von äußeren Reizen abgeschottet.
📌 Frank Vormbaum hält bereits das für rechtswidrig. Der Anwalt aus Werne im Münsterland vertritt Emilia Kühne sowie nach eigener Angabe mehrere hundert Mandantinnen und Mandanten mit ME/CFS. "Die Befristungen sind ein Drama“, sagt er. Sie zwingen Betroffene in eine Endlosschleife aus Anträgen, ärztlichen Gutachten und Unsicherheit. Für schwer Erkrankte ist das hochbelastend – und wer ans Haus gebunden ist, findet kaum einen fachkundigen Gutachter, der zu Hause vorbeikommt.
📌 Auch bei anderen chronischen Erkrankungen sorgen befristete Erwerbsminderungsrenten für Ärger. "Laufend" gehe man dagegen vor, berichtet Daniel Overdiek, Leiter der Rechtsabteilung des Sozialverbands VdK Bayern, der Menschen in sozialrechtlichen Fragen unterstützt. Derzeit seien häufig Menschen mit Post Covid und anderen postinfektiösen Syndromen betroffen, aber auch Menschen, die an Multipler Sklerose oder Herz- und Lungenerkrankungen leiden.
📌 Die Befristung, beobachtet Overdiek, werde regelmäßig damit begründet, dass erst nach neun Jahren der Erwerbsminderung ein Dauerzustand anzunehmen sei, der zu einer unbefristeten Rente berechtige.
📌 Tatsächlich steht im sechsten Sozialgesetzbuch, Paragraph 102, dass nach neun Jahren von einer bleibenden Erwerbsminderung auszugehen ist. Allerdings ist dies nur der zweite Teil eines Satzes. Davor heißt es, dass Renten dann "unbefristet geleistet" werden, "wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann". In der Praxis würden die Bescheide bis auf "extreme Ausnahmesituationen" immer erst einmal befristet ausgestellt, sagt Overdiek.
📌 Ständig neue Begutachtungen zur Schwere ihrer Erkrankung über sich ergehen zu lassen, ist für die Patientinnen und Patienten belastend. Aber die Befristung ist auch aus einem weiteren Grund schwierig: Im Gegensatz zu einer unbefristeten Rente greift sie nicht sofort, sondern üblicherweise erst ab dem siebten Monat nach der Erkrankung. Für alle, die zuvor Kranken- oder Arbeitslosengeld beziehen, ist das kein Problem – wohl aber für jene, die diese Ansprüche nicht haben. "Manche haben eine Lücke von sechs Monaten", sagt VdK-Jurist Overdiek.
📌 Bereits im Mai 2024 hatte Anwalt Vormbaum für Emilia Kühne Klage gegen die Befristung der Rente eingereicht. "Das Urteil könnte grundsätzliche Bedeutung haben", sagt er. Sein Argument ist die Wissenschaft: Die Mechanismen hinter ME/CFS sind Forschenden noch unklar, eine heilende Therapie haben sie noch nicht gefunden. Mehrere Ärztinnen und Ärzte haben Kühne schriftlich bescheinigt, dass keine Aussicht auf wesentliche Verbesserungen besteht. "Ich habe wenige Fälle, die so gut dokumentiert sind wie dieser", sagt Vormbaum.
📌 Allen ärztlichen Leitlinien zum Trotz, die international von führenden Expertinnen und Experten für verschiedenste Krankheiten erarbeitet werden, leistet sich die DRV ein eigenes Leitliniensystem "für die sozialmedizinische Begutachtung". Darin steht nicht nur, wie ein Gutachten für Zweifelsfragen zu erstellen ist, sondern auch, was die Gutachterinnen und Gutachter von einer Erkrankung halten sollten.
📌 Das wäre wahrscheinlich kein Problem – würde die DRV in ihren Leitlinien nicht mitunter stark vom Stand der Wissenschaft abweichen: Post Covid erwähnt sie fünf Jahre nach den ersten Fällen noch immer mit keiner Silbe. ME/CFS zählt sie unter die "psychischen und Verhaltensstörungen".
📌 Eigentlich hatte die DRV Bund ihre Leitlinien bereits 2023 aktualisieren wollen – geschehen ist dies bis heute nicht. Weil man das bisherige System aus zahlreichen Leitlinien zu einzelnen medizinischen Fachgebieten in ein "Online-Portal zur Begutachtung" überführen möchte, habe man den Zeitaufwand rückblickend "zu optimistisch eingeschätzt“, erklärt ein Sprecher. Bis das Portal fertig ist, müssen die Gutachterinnen und Gutachter auf der Grundlage heillos veralteter Empfehlungen urteilen.
📌 Das andere Thema, bei dem postinfektiös Erkrankte und Rentenversicherung regelmäßig in Konflikt geraten, ist die Rehabilitation. Studien zeigen, dass eine Reha vielen Post-Covid-Patienten helfen kann – insbesondere bei ME/CFS-Betroffenen ist jedoch Vorsicht geboten. Auch Emilia Kühnes Zustand habe sich in einer DRV-eigenen Rehaklinik massiv verschlechtert: Das dort übliche Trainingsprogramm führte zu einer Überlastung wie sie ME/CFS-Betroffene unbedingt vermeiden sollten.
📌 In den vergangenen Jahren hatte die ME/CFS-Expertin der Charité, Carmen Scheibenbogen, zusammen mit der DRV Bund versucht, ein Rehakonzept speziell für ME/CFS-Betroffene zu entwickeln. Es wurde mit 300 Patienten in einer Klinik im sächsischen Kreischa in einer kontrollierten Studie getestet, doch das Konzept scheiterte.
📌 Bei einem internationalen Symposium in Berlin sagte Scheibenbogen im Mai 2025: "Die Ergebnisse sind negativ." Der noch vorläufigen Auswertung zufolge hatte sich der Zustand vor allem bei schwerer Betroffenen durch die Reha verschlechtert. Die DRV Bund erklärte auf Anfrage, man werde die endgültigen Daten analysieren und bei Bedarf reagieren. Bisher jedoch seien die Forschungsergebnisse "noch vorläufig und können somit auch nicht handlungsleitend sein".
📌 Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie bescheinigte ihr – inzwischen unbefristet – eine 90-prozentige Schwerbehinderung. Die Medizinischen Dienste stufen Kühne seit Ende 2022 in den zweithöchsten Pflegegrad 4 ein, was ein Gutachten aus diesem Januar bestätigt. Sie sei zu 97 Prozent bettlägerig, heißt es darin, eine Verbesserung "nicht zu erwarten". Zuletzt hielt die Bundesagentur für Arbeit (BA) im April in schönstem Behördendeutsch fest: Es bestehe "Leistungsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt".
📌 Nur die Rentenversicherung stufte Kühne als voll erwerbsfähig ein. Auf welcher Basis? Eine Sprecherin der DRV Braunschweig-Hannover gibt dazu auf Anfrage keine Antwort. Bei den Entscheidungen anderer Stellen gehe es um "andere Leistungsbereiche", sagt sie.
📌 Was plötzlich dafür sprach, eine bettlägerige Frau wieder als arbeitsfähig anzusehen, verrät sie nicht. "Das hat die Rentenversicherung einfach am Schreibtisch entschieden", empört sich Kühnes Anwalt Vormbaum. Es habe nicht einmal ein Gutachten gegeben.
📌 Ob Emilia Kühne auch im kommenden Jahr Rente erhält, muss nun das Sozialgericht entscheiden. Auf dem Weg zum Urteil stößt die chronisch Kranke auf ähnliches Unverständnis wie in ihrem bisherigen Kampf mit der Bürokratie: Inzwischen hat das Gericht "angeregt", dass sie sich in der Post-Covid-Sprechstunde in Hannover untersuchen lasse. Und als stünde dies nicht bereits in den Unterlagen, antwortete ihr Anwalt, Frank Vormbaum, dass seine Mandantin nicht transportfähig ist.
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