Eine Betrachtung
Ob wir wollen oder nicht. Wen ME in engen Grenzen festhält, wird sich früher oder später mit den Tabu besetzten Themen Schmerz, Angst und Leid auseinander setzen müssen. Denn diese Krankheit konfrontiert mit Schmerz und macht Angst. Doch daran ist nichts falsch. Im Gegenteil, es ist völlig natürlich, wenn wir diese Krankheit anerkennen. Denn nur wer dies tut oder sich zumindest die Mühe macht zu verstehen, begreift, dass die Erkrankten sich einem existenziellen, körperlichen und somit einem ganzheitlichen Erleben, oft genug wie am sprichwörtlichen, seidenen Faden hängend, ausgesetzt sehen. In endlos erscheinender Ausweglosigkeit und Unsicherheit. Und dabei noch in heimtückischer Weise unsichtbar für die Gemeinschaft und das Umfeld. Doch hier sehen wir auch, wie weit Medizin, Psychologie und Soziale Versorgungsträger entfernt und entfremdet sind von der Natur und einer existenziellen Natürlichkeit des Lebens und des Menschen und wie mit Unwissenheit gegenüber grundlegenden, biologischen, ganzheitlichen Funktionsweisen, samt ihrer Rätsel umgegangen wird. Etwas noch nicht erforscht zu haben oder noch keine Therapie oder eine passende Medizin parat zu haben, ist das eine. Etwas nicht zu verstehen und zu kennen ist wie es ist, doch die Frage ist hier, wie reagiert Mensch auf solche Fakten und Erfahrungen? Und wie begegnen sogenannte Experten beim momentanen Stand der Forschung den Betroffenen? Wie gestaltet sich nachfolgend eine Versorgung der Menschen? Das sind spannende Frage, die sich alle Beteiligten stellen müssen und können, sind sie wirklich zum Wohle des Menschen tätig und reif genug, sich selbst und die Lage, auch in herausfordernden Themenkomplexe zu reflektieren. In Respekt und Demut. Die Paradoxien, denen man in dieser Erkrankung ausgesetzt ist, lasse ich mal dahin gestellt. Vielleicht hier an dieser Stelle nur ein kleines Beispiel. Ein Mensch ist so schwer an ME erkrankt, dass er zum intensiven Pflegefall wird. Nun wird er zwar von der Medizin, der Gesellschaft nicht anerkannt, niemand will sich um diesen Menschen kümmern oder weiß sich zuständig und die Pflegeheime winken alle ab, weil sie diese aufwendige Pflege nicht leisten können. Was will man dazu sagen? Verstehen Sie ein wenig, über welchen Wahnsinn ich hier schreibe?
So viel Hoffnung lag in der Zeit der Covid 19 Pandemie in der Luft. Angesichts der Long Covid Betroffenen und der Ähnlichkeit der Symptomkomplexe zu ME/CFS, ging man zurecht davon aus, dass es vermehrt zu Forschungen diesbezüglich kommen würde. Es gab und gibt so viele Anhaltspunkte, die es mehr als wert wären, zu beachten, um ME/CFS besser und besser zu verstehen und um den Betroffenen irgendwann einmal besser helfen zu können. Doch es scheint auch, als ob bei jeder kleinen Errungenschaft Enttäuschung auf dem Fuße folgt. Denn es fehlt nach wie vor nicht nur am politischen, allgemein- medizinischen und gesellschaftlichen Interesse, sondern schlicht und ergreifend an finanziellen Mitteln, um die spannenden, im Raum stehenden, bisherigen Erkenntnisse der Wissenschaftler und Ärzte, die sich ME/CFS angenommen haben, weiter zu entwickeln und zu vertiefen.
ME/CFS ist in seiner Unberechenbarkeit, Unkontrollierbarkeit und seinem Ausmaß ein strenger Lehrmeister. Für alle. Nicht nur für die Erkrankten. Und wie ist es in unserer Gesellschaft, in der Medizin und in der momentan westlichen Psychologie um Wissen und Unterstützung im Umgang mit den Themen Schmerz, Angst und Vergänglichkeit bestellt?
Die westliche Psychologie ist in sich noch sehr jung, sehr begrenzt und bietet kaum Hilfestellungen für diesen schweren Gang und Lebensprozess. Denn man muss sich bewusst werden, dass die Aussicht auf den Tod angstbesetzt sein kann; das weiß man schon. Doch genau so ist die Aussicht auf drohenden, lebenslang andauernden körperlichen Schmerz und sein damit verbundenes Leid ohne die Aussicht auf Anerkennung, Hilfe und Pflege extrem belastend. Die andauernde Konfrontation mit einer heimtückischen, grausamen Erkrankung, die eine Erfahrung bereit hält, auf unbestimmte Zeit regelrecht lebendig begraben zu sein, ist nämlich nicht minder schlimm. Immer in einer Art Schutzhaltung sein zu müssen, obwohl man doch alle Kraft für existenzielle Körperprozesse bräuchte und in einer Habachtstellung, dass nicht doch willkürlich und unachtsam oder gar gewaltsam über den eigenen Kopf, die Bedürfnisse oder notwendigen Richtlinien im Umgang mit der Erkrankung entschieden wird. Denn das könnte im schlimmsten Fall eine irreversible Verschlechterung des Zustandes bewirken oder eine völlige Dekompensation. Das ist Horror.
Im Gegenteil wirft sie in meinem Erleben und im Kontakt mit zahlreichen anderen Betroffenen eine besonders raffinierte Erfahrung auf, die so entsetzlich ist, dass sie viele regelrecht verstummen lässt und aufgeben. Die Symptome sind in ihrer Komplexität und ihrer Heftigkeit sehr zehrend und belastend.
Vor kurzem hörte ich einen Satz, der für ME/CFS sehr eindrücklich klingt.
„Die gute Nachricht ist: An ME/CFS stirbt es sich nicht so schnell.“
„Die schlechte Nachricht ist: An ME/CFS stirbt es sich nicht so schnell.“
Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich in meinem Artikel nur unzureichend auf diese komplexen und weitreichenden Themen Schmerz und Angst vor Leid eingehen kann. Doch sollte es auch nicht verschwiegen werden, welchem enormen Leidensdruck ME /CFS Patienten ausgesetzt sind und wie die Sachlage in Deutschland tatsächlich aussieht. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen beginnt nicht erst, wie man vielleicht meinen könnte, mit einem schweren Verlauf. Nein. Weit gefehlt. Diese Krankheit legt die grundlegenden Überlebensprogramme frei. Diese Krankheit zwingt unaufhaltsam, sich mit den Urängsten des Menschen umfassend auseinander zu setzen. Und mit der Tatsache, dass man damit tatsächlich überwiegend völlig alleine dasteht. Es ist also nicht der so berühmte falsche Film, sondern traurige, entsetzliche Realität. Den ganzen Widrigkeiten und der ganzen Unlösbarkeit in voller Wucht ausgeliefert. Auf unbestimmte Zeit.
Man könnte meinen, dass dies doch kein Problem darstellen dürfte in unserer aufgeklärten, angeblich so weit entwickelten westlichen Medizin und Psychologie im reichen, fortschrittlichen Deutschland. Das ist bedauerlicherweise ein großer Irrtum. Was hier geschieht ist ein stummes Desaster, einer humanitären Katastrophe gleichkommend.
Der ME/CFS Patient wird alleine gelassen. Eine psychosoziale Begleitung gibt es nicht. Eine angemessene, medikamentöse Versorgung gibt es nicht. Es gibt keine Leitlinien, ausgebildeten Ärzte oder Pflegepersonal. Die bis jetzt zur Verfügung stehenden Medikamente helfen nicht oder nehmen oft nur die Spitze des unaussprechlichen Schmerzes und der Todesangst. Oder der Körper reagiert mit heftiger Ablehnung und paradoxen Reaktionen. Was natürlich wieder dem Patienten angelastet wird. Weil weder Ärzte noch Pflegekräfte, noch irgendein anderer darin geschult ist. Die Angehörigen werden zu Experten, wenn es welche gibt, die diese enorme Last tragen können. Eine perfide Dynamik tut sich in dieser Erkrankung nach der anderen auf. Der Patient sieht sich völlig alleine auf weiter Flur.
Wie beängstigend ist es, keinen Menschen zu finden, der weiß, was man hat, der es ignoriert oder verspottet oder sich schlicht und ergreifend nicht damit auskennt und gänzlich überfordert ist damit? Und wie sollen dann Freunde, Familie und Angehörige informiert werden? Was haben sie für eine Chance, den Erkrankten zu unterstützen? Die pflegenden Personen kommen meist aus dem privaten Umfeld und auch hier kann man von Glück sprechen, wenn es gut funktioniert und nicht mentale, psychische oder körperliche Gewalt oder Vernachlässigung an der Tagesordnung sind.
Überforderung wohin man schaut. Ohne Aufklärung sehe ich hier kein Land. Ohne drastische Veränderung bleiben die Schreie ungehört und die Menschen verschwinden aus der Gesellschaft und auch in gewisser Weise aus dem Gesundheitssystem. Denn viele sind zu schwach und zu gebrandmarkt von der Ignoranz und Arroganz des Umfeldes.
Wie beängstigend ist es, sich auch noch mit dieser unüberschaubaren, zusätzlichen Ungewissheit und Gegebenheit anzufreunden und dann dabei noch für sich selbst einigermaßen mental und psychisch stabil zu bleiben, während man selbst tagtäglich schwierigste praktische und körperliche Um- und Zustände händeln muss. Es ist unzumutbar und doch erleben es alleine in Deutschland über 300 000 Menschen, darunter mehr als 40000 Kinder und Jugendliche, die sich zusätzlich mit ihren Familien noch mit dem Schulamt und oft genug auch dem Jugendamt und Familiengerichten herumärgern müssen. Unsichtbar und ohne Stimme und Lobby.
Der erkrankte Mensch sieht sich hier einer tiefgreifenden Desillusionierung ausgesetzt und benötigt ein schier übermenschliches Maß an innerer Stärke und Ressourcen, denn das ganze Szenario ist wirklich unmenschlich. Und dennoch müssen es so viele, oft Jahrzehnte lang genau so erleben. Manche für immer, ein Leben lang.
Ein tägliches Ringen, ein tägliches Vegetieren in einer zwangsauferlegten, überlebens- notwendigen Anpassung, die Menschen unwürdiger nicht sein könnte. Viele wählen den Freitod. Nicht weil sie depressiv wären an sich, aber zermürbt und ohne Kraft. Für viele ist dieser Schritt die einzige Möglichkeit zu letzter Selbstbestimmtheit und Würde.
Nicht nur die grundlegende medizinische und soziale Situation der Erkrankten, sondern auch ihre damit verbunden Ängste und das Leid muss begriffen und ganz anders angepackt werden, um dem Menschen hier auch nur annähernd gerecht zu werden in seinem äußerst intensiven Erfahrungsweg und Lebensprozess mit ME/CFS. Hierfür braucht es an allen Ecken und Enden Reform.
Es braucht zu Lebzeiten einen anderen Umgang mit dem Thema Krankheit, Leid, Angst und auch dem Sterben und wie es möglich ist, in täglicher, quälender Ungewissheit, stärksten Schmerzen und Einsamkeit, ein inneres Gleichgewicht oder gar inneren Frieden zu finden. ME/CFS wirft zusätzliche wichtige Fragen auf, denen viele anders schwer Erkrankte in dieser Form nicht begegnen, weil es hier größtenteils genügend Leitlinien, ausreichend Aufklärung und Anlaufstellen, Pflege und Versorgung gibt. Deshalb braucht es hier besonders Menschen, die geschult darin sind, Ansprechpartner sein zu können, die echte Zuwendung und Gehör schenken können in solchen unvermeidlichen Phasen der Erkrankung. Und natürlich braucht es eine menschenwürdige, palliative Versorgung in Phasen der Verschlechterung.
Diese Patienten leiden nicht unter Angststörungen, sie haben Angst. Berechtigterweise. Todesangst ist eines der stärksten Empfindungen, die ein Mensch erleben kann. Das ist nicht krank, sondern menschlich. Das gehört zu einem menschlichen Leben. Es darf nicht in die Ecke einer entmündigenden Psychiatrisierung und Pathologie verbannt werden.
Wie weit haben sich Medizin und Psychologie vom echten Menschsein entfernt? Und wie weit und dringend notwendig ist der Weg zurück, in ein umfassenderes Verständnis des Menschen und seiner Natur? Wie dringend ist hier eine Reform, um den Menschen in seinen grundlegendsten, psychischen, geistigen und physischen Strukturen zu verstehen und im Respekt zu begleiten.
Zurück in ein achtsames Erforschen und Begreifen einer noch rätselhaften, grausamen Erkrankung und zurück in ein natürliches Verständnis von Leben, Krankheit, Leid, Schmerz und Tod.