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Montag, 25 April 2022 11:23

Hinter geschlossenen Vorhängen

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Sonnenschein schimmert durch das zugezogene Fenster. Laute Stimmen, lachende fröhliche Menschen. Rasenmäher. Bauarbeiten. Der Winter ist vorbei, das Leben spielt sich nun draußen ab. Menschen treffen sich auf Spaziergänge. Kinder spielen auf dem Spielplatz. Grillpartys. Familienfeste.

Der Frühling ist da; der Sommer steht vor der Tür.

Und wir ME/CFS Betroffene? Einige von uns können an diesem Leben noch ein stückweit teilnehmen; schaffen es auf den Geburtstag der Tante oder auf einen Ausflug im Rollstuhl; können ein kurzes Sonnenbad im Garten genießen.

Für viele schwer und sehr schwer Betroffene bedeutet dies aber eine noch unerträglichere Zeit. Man ist eingesperrt. Im Zimmer. Im Bett. Im eigenen Körper. So sehr sehnt man sich danach, nach draußen zu kommen. Fünf Minuten frische Luft einzuatmen und die Sonne auf der Haut zu spüren.

Die Realität sieht anders aus. Schon leicht wärmere Temperaturen lassen schwer und sehr schwer Betroffene verstärkt leiden. Viele ertragen die Wärme nicht mehr. Schon der kleinste Sonnenstrahl fühlt sich an wie starke Verbrennung auf der Haut. Das geschlossene Fenster hält weder die Wärme noch die starken Geräusche der Außenwelt fern.

Tag für Tag, Jahr für Jahr, liegen sie leidgeplagt in der Dunkelheit, versuchen mit Kopfhörern und Augenmaske sämtliche Reize von sich fernzuhalten. Tägliche unvorstellbare, unerträgliche Schmerzen; Tage und Nächte ohne Schlaf. All das verschlechtert sich oft durch die Wärme und die reizstarke Umgebung.

Dazu gesellt sich die Sehnsucht nach dem Leben. Denn dieses läuft ohne sie weiter. Gerade im Frühling und Herbst ist man noch isolierter und abgeschnitten. Das Glück der anderen Menschen, die draußen ihr Leben genießen, dringt durch die Wände nach innen und lässt Gefühle der Einsamkeit, Aussichtslosigkeit und Verzweiflung zurück.

Sie sind gefangen in dieser Hölle. Niemand kann ihnen etwas von ihrem Leid oder ihren Schmerzen abnehmen. Ablenkung gibt es keine.
Besuch von Freunden oder der Familie ist nicht möglich, schon die Anwesenheit der Pflegepersonen ist meist unerträglich. Für viele ist Social-Media die einzige Verbindung zur Außenwelt. Doch auch dieser Kontakt ist begrenzt. Auf Nachrichten zu antworten ist nur schwer und selten möglich.

Sie haben Angst, dass sie bis zum Lebensende in diesem Zustand ausharren müssen.

Allein. Von der Welt vergessen.

Selbst für uns mild und moderat Betroffene ist es kaum vorstellbar, unter welchen täglichen Qualen schwer und sehr schwer Betroffene leiden müssen. Für Angehörige und Außenstehende erst recht.

Ich hoffe, wir können euch ein wenig in „ihre Welt“ mitnehmen. Oft ist man zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber lasst diese Menschen nicht verschwinden, nicht verblassen.

Denkt an die schwer und sehr schwer Betroffenen. Diese Menschen zu ignorieren, weil es für einen selbst zu belastend ist, wäre fatal. Auch sie haben das Recht, gehört zu werden. Gebt ihnen öffentlich eine Stimme und lasst ihnen von Zeit zu Zeit liebe Worte da. Erwartet aber keine Antwort. Oft sind sie zu schwach, um zu antworten. Aber sie sind dankbar für jeden, der sie nicht vergisst.

 

Bilder von schwer und sehr schwer ME/CFS-Betroffenen

Bildergalerie siehe unten

Gelesen 1485 mal Letzte Änderung am Montag, 25 April 2022 11:33
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