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Sonntag, 18 April 2021 09:00

Alter, neuer Ehrgeiz

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Vor ME/CFS hat man jeden Tag etwas geschafft oder erschafft. Im Büro das Meeting vorbereitet, dem Chef die Präsentation erstellt, dem Bauleiter während der Bauberatung unterstützt. Im Leben gestanden. Berufliches und familiäres einfach gewuppt. Es hinbekommen. Das war alles in diesem Moment nichts besonderes, es war einfach selbstverständlich. Der Grundgedanke war: ich kann es, ich schaffe es. Denn da war dieser Ehrgeiz: "Man wollte die Rechnungen für die Kunden unbedingt noch an dem Tag fertig bekommen, man wollte die Anzeige für die Zeitung mit der Anzeigenberaterin schon vorbereitet haben, bevor der Vertriebsleiter danach fragt, trotz spätem Meeting, den Kuchen für die KiTa doch selbstbacken.." und genau dieser Ehrgeiz ist nicht einfach weg, nur weil man eben ME/CFS hat und der Körper streikt.

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Dieser Ehrgeiz, der uns früher zu Höchstleistungen angetrieben hat, genau dieser ist jetzt nicht unbedingt von Vorteil, weil er uns unter Druck setzt. Druck bei unserer Erkrankung, kann leider den von allen Betroffenen gefürchteten „Crash“ hervorrufen, Druck bedeutet auch Stress. Stress bringt aber noch so viel mehr durcheinander: mehr als 3/4 der Erkrankten können mit Stress schlechter umgehen. Es kommt dazu, dass sich die Symptome verstärken bzw. diese sogar mehr werden. ME/CFS Betroffene können bis zu 70 Symptome gleichzeitig haben.

Aber wie geht man damit um, wenn man quasi „nichts“ mehr schafft? Weder beruflich, noch familiär - gefühlt absolut nichts? Der Ehrgeiz ist trotzdem da. Man möchte doch auch endlich wieder etwas sichtbares schaffen, etwas was man greifen kann, auf das man stolz ist. Natürlich lernt man genügsam zu sein oder besser gesagt, man wird dazu gezwungen es zu sein. Man lernt sich darüber zu freuen, wenn man es geschafft hat zu duschen, wenn man den Termin beim Arzt bewältigt hat oder vielleicht sogar eine halbe Stunde spazieren war - aber doch ist das etwas anderes.

Man sollte versuchen sich etwas zu suchen, wo man wieder etwas „schafft“. Das ist natürlich auch immer davon abhängig, wie schwer man betroffen und was für einen persönlich möglich ist. Vielleicht fängt man an zu zeichnen und man schaut nach Tagen, Wochen oder Monaten voller Stolz auf das Bild, welches man erschaffen hat. Vielleicht schreibt man aber auch Leserbriefe, Beiträge für bestimmte Seiten oder eben einfach „nur“ eine E-Mail auf z.B. einen guten Artikel über ME/CFS. Sollte man dann darauf noch eine Antwort erhalten, ist es für einen selbst noch viel besser und vor allem für das Selbstwertgefühl und die Seele.

Wir müssen unseren "alten Ehrgeiz" umwandeln in einen "neuen". Einen Ehrgeiz, der an die Situation angepasst ist und motivierend wirkt. Unser altes Leben ist vorbei - etwas was wir akzeptieren müssen. Haben wir das, fällt es uns leichter unseren Ehrgeiz umzulenken.

Mit dieser Erkrankung ändert sich unser ganzes Leben - aber eben nicht alles und vor allem, dürfen wir uns durch ME/CFS nicht alles nehmen lassen.

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